Es klingt fast ein bisschen wie die konsequente
Weiterführung der momentan beliebten populistischen Schreckensfantasien, wonach
Europa islamisch unterwandert wird, doch es handelt sich hier nicht um Fiktion
oder Satire, sondern um eine kleine, aber bemerkenswerte Episode der
europäischen Geschichte.
Cem war der dritte und jüngste Sohn von Mehmed II. Der Vater
hatte bekanntermassen am 29. Mai 1453 Konstantinopel erobert und damit das
Byzantinische Reich beendet.
Als Mehmed im
Jahre 1481 starb, entbrannte zwischen seinen Söhnen Bayezid und Cem ein Kampf um die
Thronfolge. Cem hatte vom Tod seines Vaters erst erfahren, als dieser schon
beigesetzt war, und als er schliesslich aus Konya im Zentrum Anatoliens nach
Istanbul gelangte, hatte sich dort sein Bruder schon das Schwert des
Dynastiegründers und Vorfahren Osman I. umgegürtet, was einer Krönung
gleichkam.
Cem sammelte Getreue um sich und
eroberte die ehemalige Hauptstadt Bursa, etwa 90 km südlich von Istanbul
gelegen. In der Moschee der Stadt wurde er am 2. Juni 1481 zum Sultan
ausgerufen, und er begann auch sofort, Silbermünzen mit der Prägung „Sultan
Cem“ herzustellen. Sein Plan war wohl, sich mit seinem Bruder auf eine
Reichsteilung zu einigen. Bayezid sollte von Istanbul aus die europäischen
Provinzen beherrschen, Cem seinerseits Sultan über Anatolien sein.
Für den älteren Bruder kam eine
Reichsteilung nicht in Frage. Er sammelte seinerseits Truppen und besiegte Cem
am 22. Juli 1481 bei Yenişehir etwa 50 km östlich von Bursa.
Für Cem
begann eine wohl recht abenteuerliche Flucht, die ihn über Anatolien und
Palästina nach Kairo führte. Dort fand er beim mamlukischen Sultan, dem
mächtigsten Gegenspieler der Osmanen, Aufnahme und in der Folge auch
Unterstützung, um in einem neuen Anlauf den Thron erneut zu erkämpfen.
Im März
1482 zog Cem, unterstützt von alten Getreuen, aber auch einigen Überläufern aus
den Reihen Bayezids und einer kleineren Unterstützungstruppe der Mamluken,
erneut nach Anatolien. Doch der ältere Bruder, der wohl durch Spionage recht
gut über die Schritte Cems informiert war, besiegte ihn sehr schnell zum
zweiten Mal.
Die nun folgende Flucht führte Cem zunächst nach Rhodos, das
damals noch dem Johanniterorden unterstand. Der Grossmeister des Ordens, Pierre
D’Aubusson, gewährte ihm Asyl, liess ihn aber bald nach Frankreich bringen, wo
er in verschiedenen Burgen gefangen gehalten wurde. Der Osmane wurde als
kostbares Gut für finanzielle und diplomatische Berechnungen gehalten.
D’Aubusson akzeptierte eine jährliche Zahlung von 35’000 Golddukaten (nach
anderen Quellen 45’000 Golddukaten) aus der Hand des Sultans Bayezid II mit der
Auflage, ihn daran zu hindern, unter den europäischen Mächten nach Verbündeten
für einen weitern Angriff auf den osmanischen Thron zu suchen. Ausserdem wurde
der Herrscher am Bosporus erpresst, mit Europa dauerhaften Frieden zu halten,
da ansonsten Cem als Anführer eines „Kreuzzuges“ gegen den Bruder aufgebaut
würde.
Die Herrscher Europas verhandelten untereinander über das Recht,
den Gefangenen zu behalten, da sie alle versuchten, die türkischen Gelder auf
ihre Seite zu ziehen. Auch Papst Innozenz VIII spielte in den Ränken eifrig mit,
und schliesslich konnte er die Geisel nach Rom bringen. Zukünftig erhielt er
die Dukaten aus Istanbul. Als Gegenleistung an D’Aubusson wurde diesem die
Kardinalswürde verliehen.
Den feierlichen Einzug Cems in Rom beschreibt der deutsche
Historiker Ferdinand Gregorovius. Der Sohn des Eroberers von Konstantinopel
ritt, umgeben von einigen Moslems, die ihn in sein Exil begleitet hatten, dem
Oberpriester der Christenheit entgegen. Zahllose Menschenscharen säumten seinen
Weg, und viele Edle zu Pferde grüssten ihn, doch Cem würdigte sie keines
Blickes.
Am folgenden Tag wurde er vom Papst empfangen. Cem wurde hier wie
ein christlicher Fürst behandelt, doch der Exilant vergass keinen Augenblick,
dass er ein Bekenner des Propheten und der Sohn von Mehmed II war. Er
verachtete die Anordnung des Zeremonienmeisters, sich vor dem Papst
niederzuwerfen; stattdessen schritt er ruhig auf den Stellvertreter Christi zu
und hauchte ihm flüchtig einen Kuss auf die Schulter.
Cem lebte in der Folge in, wie Gregorovius anmerkt, öden
Gemächern, bewacht von einigen Ordensleuten aus Rhodos und stets in Furcht vor
Auslieferung oder Gift. Zuweilen begab er sich auf die Jagd, vertrieb sich die
Zeit mit Musik und Gastmählern.
Bayezid II indessen setzte alles daran, seinen Bruder endgültig zu
beseitigen. Hatte er zunächst um eine Auslieferung verhandelt – in einer ersten
Etappe des Exils bot er dem französischen König vertraglich Jerusalem an,
dessen Eroberung er gerade betrieb – suchte er mittlerweile auch nach
willfährigen Dienern, die einen schnellen Tod des Rivalen herbeiführen könnten.
Eine Begebenheit bedarf noch der besonderen Erwähnung. Ende 1490 traf
eine türkische Delegation in Rom ein, die dem Papst 120’000 Dukaten für die
Beherbung Cems, viele wertvolle Geschenke und das Versprechen eines ewigen
Friedens brachten. Ein Minister dieser Delegation verlangte den Prinzen zu
sehen und wurde von diesem wie von einem regierenden Sultan, sitzend auf dem
Thron, empfangen. Er erhielt einen Brief von seinem Bruder, der aber erst
entgegengenommen wurde, nachdem ihn der Minister innen und aussen abgeleckt
hatte – wohl um die Befürchtung, es könnte Gift in irgendeiner Form im Spiel
sein, zu zerstreuen. Die türkischen Gäste wurden in der Folge durch Cem im
Palast der Päpste mit einem grosse Gastmahl bewirtet, was bei vielen Römern für
Unmut sorgte, hielten da doch der Papst und ein Sultan gemeinsam Hof.
Papst Innozenz VIII starb am 25. Juli
1492, sein Nachfolger wurde Rodrigo Borgia als Alexander VI. Dieser neue Papst,
bekanntermassen Geldgeschäften jeglicher Art kaum weniger zugetan als sein
Vorgänger, soll schon bald nach der Übernahme des Pontifikats von Bayezid II
aus Istanbul ein neuerliches Angebot zur Ermodung Cems erhalten haben.
Indes hatte der Papst bald andere
Probleme: Der französische König Karl VIII zog nach Italien, eroberte Florenz
und marschierte schliesslich in Rom ein. Ziel des Kriegzuges war Neapel, auf
dessen Thron der französische König Anspruch erhob. Im Rahmen der diplomatischen
Bemühungen des Papstes, seine eigenen politischen Pläne zu retten, überliess er
schliesslich die türkische Geisel dem französischen König. Cem und seinen
Nachfahren wurde ein neapolitanischer Fürstentitel verliehen, das Haus von
Said, welches noch bis ca. 1600 Bestand hatte.
Karl VIII nahm Cem mit sich auf seinem
Weg nach Neapel. Die Stadt wurde am 22. Februar 1495 eingenommen und Karl als
König Neapels eingesetzt. Drei Tage später traf Cem in Neapel ein. Er war schon
auf der Reise erkrankt und starb am 25. Februar 1495 in Neapel. Sofort gab es
Gerüchte, man habe ihm auf Befehl des Papstes Gift in Form eines weissen
Pulvers gegeben.
Für den französischen König, der dem
Plan nachhing, einen neuerlichen Kreuzzug nach Kleinasien zu unternehmen und
bei dieser Gelegenheit Cem als Verbündeten anstelle seines Bruders auf den
Thron im Osmanischen Reich zu bringen, war der Tod ein schwerer Schlag. Die
Rückeroberung des Bosporusses und Wiederauferstehung Byzanz’ konnte nicht
stattfinden.
Und nur 34 Jahre nach dem Tod Cems
stand der Enkel seines Bruders, Süleiman der Prächtige, vor den Toren Wiens.